Allerhöchste Zeit zu reden … über Angst, Naivität, Propaganda und tödlichen Rassismus

Von Prof. Dr. Sabine Schiffer, 02. Dezember 2025
Wie konnte es uns passieren, dass wir zwei Jahre lang dem in Teilen medial präsenten Vernichtungsfeldzug in Gaza zusehen? Zwar entbinden uns auch die lang andauernde mediale Nichtpräsenz der Hungerkatastrophe im Sudan, die lange stillen Angriffe auf Venezuela und die fortschreitende globale Umweltkatastrophe mit zunehmenden Extremereignissen nicht von Verantwortung angesichts der Möglichkeiten, sich umfassender zu informieren als es unsere reichweitenstarken Medien tun; aber in Sachen Israel-Palästina handelt es sich um eine besondere deutsche Verantwortung, der wir nicht nachgekommen sind.
Denn die historische Verantwortung an der Shoa, die einen wesentlichen Teil zur verstärkten Besiedelung Palästinas durch ashkenasische Juden beitrug, liegt in der deutschen NAZI-Vergangenheit – und die erstreckt sich nicht nur auf überlebende und Zuflucht suchende Juden, sondern auch auf die dort bereits lebende palästinensische Bevölkerung, die seither mit systematischer Vertreibung konfrontiert ist. Während es zu meiner Kindheitswahrnehmung gehörte, dass Palästinenser Terroristen seien, erschloss sich mir in den letzten drei Jahrzehnten – seitdem ich mich mit der Nahostkrise befasse – erst allmählich, warum der Slogan „Free Gaza from German guilt!“ eine tiefe Wahrheit trägt, auch wenn diejenigen, die den Slogan nutzen, sich dessen vielleicht gar nicht bewusst sind.
Wer sich seiner Verantwortung stellen will, kann nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust nicht einfach von „alle Juden sind böse und gefährlich“ auf „alle Juden sind gut und immer unterstützenswert“ umschalten und damit bei einer homogenisierenden Zuschreibung einer als anders empfundenen Gruppe bleiben. Der Philosemitismus bildet nichts anderes als die zweite Seite der rassistisch-antisemitischen Medaille. Denn „DIE Juden“ gibt es natürlich genauso wenig wie „DIE Deutschen“ oder „DIE Palästinenser“, wie man allein an der Stimmenvielfalt jenseits dieser Gruppeneinteilung im so genannten Nahostkonflikt ablesen kann.
Ein Rassismus beginnt immer mit der Verallgemeinerung
Diese verallgemeinernde Homogenisierung enthält schon den Kern der Entmenschlichung. Damit beginnt das Othering, was ausgrenzend wirkt und Menschen niemals gerecht wird. Auch ein gut gemeinter Satz, wie „Das Verhältnis von Juden und Deutschen hat sich gebessert“ bedient dieses Othering ebenso wie der Satz „Das Verhältnis von Deutschen und Muslimen verschlechtert sich“, denn – und das deckt eine Gegenprobe auf – ein Satz, der „das Verhältnis von Deutschen und Christen“ formuliert, erscheint paradox; dies verrät, welche Grundkonzeption vom Deutschsein unausgesprochen vorherrscht.
Im Austausch von kollektiver Antipathie in kollektive Sympathie gegenüber „den Juden“ – die also immer noch als homogene Andere imaginiert werden – liegt die Einbildungskraft gelungener Geschichtsaufarbeitung in Deutschland. Die Betonung liegt dabei auf „Einbildung“, denn es handelt sich um Aufarbeitungsmythen, die mehr dem Wunsch nach Selbstidealisierung („Wiedergutwerdung“ nach Max Czollek) entsprechen, statt schonungsloser Auseinandersetzung mit den Mechanismen, die die „Banalität des Bösen“, wie sie Hannah Arendt früh erkannte, ermöglichte.
Zur Vorstellung einer Schuldüberwindung gesellt sich heute die Chance einer Schuldabwehr durch die Übertragung eigener Schuld und Denkweisen auf „die Anderen“; also die Projektion eigener Ressentiments auf ein Außen. Da sind dann Araber, Palästinenser, Muslime – Christen, Drusen u.a. werden gerne ausgeblendet – willkommen, um den eigenen Antisemitismus dort zu verorten; was nicht davon abhält, sie gleichzeitig mit antisemitisch-verschwörungstheoretischen Stereotypen zu belegen.
Das Wunschdenken der Überwindung des eigenen Ressentiments schlägt sich heute in Rassismusleugnung nieder, denn Rassismus könne es ja nun quasi nicht mehr geben beim Aufarbeitungsweltmeister Deutschland – als einzigem Land auf der Welt.
Dabei sollte man sich nicht selbstgewiss über andere stellen mit der Frage: „Wie konnten die (damals) nur?“ Schließlich wissen wir heute gesichert, was falsch war – die Gnade der Retrospektive wird verkannt. Erkenntnisreicher wäre es, der Frage Daniel Jonah Goldhagens nachzugehen: Wie konnte es (damals) noch Menschen geben, die der permanenten Indoktrination von einer Schädlichkeit der Juden nicht erlegen sind und etwa einigen halfen? Das ist mit Verlaub die interessantere Frage, die uns weiterbringen könnte. Und diese wäre auf heute und überall und auch auf andere diffamierte Gruppen übertragbar, wo die Sicherheit der Retrospektive fehlt – ganz im Sinne von Wolfgang Benz, der unter dem Buchtitel „Vom Vorurteil zur Gewalt“ aufzeigt, welches Potential die Erkenntnisse der Antisemitismusforschung universell hat.
Dass wir mit selektiver Empathie für Juden – und stellvertretend für diese für Israel – nicht weit gekommen sind, lässt sich leicht erkennen. Es wird nicht nur den uneinigen Israelis nicht gerecht und birgt die Gefahr, andere Völkerrechtsverletzungen zu übersehen angesichts eines zu engen Gesichtsfelds. Denn: Wie kann ein „Nie wieder!“ nicht für alle Menschen gelten? Wie konnte es passieren, dass Palästinenser – stellvertretend für andere Paria dieser Welt – nicht als gleichwertige Menschen wie alle anderen anerkannt werden und deren Leben nicht geschützt wird?
„Der Palästinenser“ an sich…
Ich erinnere ein Schlüsselerlebnis während meiner Studienzeit an der Universität in Erlangen: nach einer Veranstaltung zum Nahost“konflikt“ (s.u.) gingen einige Studierende noch etwas trinken. Schließlich stellte sich heraus, dass alle Nichtdeutschen in der Runde Palästinenser waren. Nach dem tabubruchähnlichen Outing eines ersten haben auch alle anderen quasi zugegeben, dass sie nicht Libanesen, Syrer oder Israelis seien, sondern eben Palästinenser. Damit hatten sie sich zunächst zurückgehalten. Ich musste über mich selbst erkennen, dass ich vermutlich an diesem Abend nicht mit der Gruppe mitgegangen wäre, wenn ich geahnt hätte, dass ich mich unter lauter Palästinensern wiederfinden würde – was damals gleichbedeutend mit „Terroristen“ war. Mir scheint, bis heute oder heute wieder ist die Bezeichnung mit dieser Bedeutung belegt – und ein Überfall wie der vom 7. Oktober 2023 ist geeignet, das Urteil erneut zu bestätigen. Dabei bleibt es, abgesehen vom unbedingten Schutz von Zivilisten, völkerrechtlich umstritten, welche Akte von Gewalt in einer aussichtslosen Situation und nach Ausschöpfung aller anderen Rechtsmittel noch legitimen Widerstand darstellen und welche nicht mehr. Was kein Widerstand ist und auch kein „Recht auf Selbstverteidigung“ darstellt, ist tatsächlich völkerrechtlich eindeutig: die Ausübung von Gewalt auf besetztem Gebiet, ja überhaupt eine Besatzung.
Mit der Frage „Sind Indianer Terroristen?“ weckte Jeremy Milgrom, Rabbiner für die Menschenrechte, dann endgültig meinen Entdeckergeist. „Nein, natürlich nicht!“, war ich innerlich geneigt zu antworten. Aber doch, so würde man wohl Indigene bezeichnen, die harmlose Farmen überfallen in einem Land, das bis dato keine Zäune kannte.
Den vergifteten Diskurs über den so genannten Nahostkonflikt kenne ich seit Jahrzehnten gut genug, um zu wissen, dass mir mindestens der letzte Abschnitt als Relativierung von Verbrechen ausgelegt werden wird, als Rechtfertigung von Terror – wobei neuerdings nur der vom 7. Oktober als solcher zu zählen scheint; dabei lehne ich jede Form von Gewalt ab, und die GEWALT im Sinne von staatlicher und militärischer Kontrolle ist hier klar auf einer Seite. Wer das nicht kritisiert, relativiert das Völkerrecht und hilft der Entwertung von mühsam errungenen Rechtsnormen – betreibt also den „Whataboutism“, den man gerne beklagt.
Deshalb müssen wir da jetzt alle durch und uns mit der Frage auseinandersetzen, warum in einem Konflikt diejenigen, die sich gegen Unterdrückung wehren, „Terroristen“ sind, im anderen Fall aber als „Rebellen“ und wieder in einem anderen als „Freiheitskämpfer“ benannt werden. Fragen nach Wording und Framing werden im Kapitel über Mediendiskurse noch einmal aufgegriffen, aber hier nun ist zunächst wichtig, den Charakter des Konflikts als Kampf um Land und Heimat zu erkennen, den man laut Jeff Halper vom Israelischen Komitee gegen Häuserzerstörungen (ICAHD) eigentlich nicht „Konflikt“ nennen dürfe – weil das mehr Symmetrie suggeriere als es sie gibt. Verkürzend könnte ich nun mit Herfried Münkler schließen, der auf einer Sicherheitstagung in Nürnberg 2008 sagte: „Wir brauchen keinen Terror, wir haben Technologie.“ Verkürzend darum, weil wir gerade in Gaza wie im Westjordanland Zeuge werden, wie auch die totale technologische Überlegenheit eines Staates nicht davor schützt, in Terror abzugleiten.
Die Religionisierung eines Territorialkonflikts
Auffällig ist beim so genannten Nahostkonflikt, dass nicht von „asymmetrischer Kriegsführung“ die Rede ist – obwohl die Krise so asymmetrisch ist, dass man das Gemetzel in Gaza nur schwer als „Krieg“ bezeichnen kann; wo eine Seite über Militär und Staatsgewalt verfügt, die andere hingegen zwar eine gewisse Guerilla-Struktur aufweisen kann, aber die Zivilbevölkerung in keiner Weise geschützt werden kann – nicht nur in Ermangelung eines Iron-Domes, sondern auch aufgrund der Enge im abgeriegelten Gaza-Streifen. Allein deshalb ersparen wir uns hier jede Erörterung einer „Schutzschild“-These, die sowieso – um einmal die Worte des Journalisten Jeremy Scahill zu zitieren – als Eingeständnis anzusehen wäre: „Every accusation is a confession,“ wiederholt Scahill in diversen Interviews mit Blick auf israelische Verantwortliche und deren Machenschaften – wozu nicht nur die behauptete Verwendung von menschlichen Schutzschilden gehört. Er zählt zu den Journalisten, die in der Lage sind, ihren Einordnungen eine fundierte Machtanalyse zugrunde zu legen. Davon braucht es mehr – auch in der Wissenschaft.
Zum Jahrestag der Balfour-Declaration sei also nochmal daran erinnert, dass es sich um einen Territorialkonflikt handelt – weil ein Land zwei Mal versprochen wurde; von jemandem, der über das Land gar nicht zu verfügen hatte. Aber so war die europäische Gewohnheit in den Zeiten des Kolonialismus, die bis heute in der gesamten Region ihren Niederschlag findet. Und von der Attitüde von Rudyard Kiplings „White Man’s Burden“ hat sich so einiges in die ökonomisierten Formen eines im globalen Süden grassierenden Neokolonialismus hinüber „gerettet“. Hierbei ist besonders der Blick auf Großbritannien zu richten. Nicht von ungefähr ist nun der Brite und mutmaßliche Kriegsverbrecher Tony Blair in einem trumpesken „Friedensplan“ im Gespräch, Gaza zukünftig zu verwalten – schließlich gehe es um die Sicherheit Israels VOR Palästinensern, nicht um die Sicherheit VON Palästinensern. Deshalb ist allenfalls von einer Entwaffnung der Hamas, nicht jedoch der IDF die Rede, und das völkerrechtlich verbriefte Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser findet – wenn überhaupt – nur am Rande Erwähnung. Mehr Asymmetrie geht also nicht. Dennoch will die Bezeichnung „asymmetrische Kriegsführung“ weder Politikern noch Journalisten über die Lippen. Auf die Schwäche einer fehlenden Machtanalyse bei der Bewertung von Missständen gehe ich im Folgenden noch genauer ein.
Hier zunächst noch ein Wirkmechanismus aus der Diskursanalyse, der über die letzten Jahrzehnte stattgefunden hat und dessen Auswirkungen nicht groß genug eingeschätzt werden können: die Religionisierung des „Konflikts“, der – liest man sich durch die Literatur der 1970er und 80er Jahre – seinerzeit kaum religiöse Facetten in der öffentlichen Wahrnehmung hatte. Wie deutsche Medien zu diesem Reframing des Territorialkonflikts beitrugen, illustrieren zwei Titel des Magazins Stern, die in den 2000er Jahren erschienen. Man achte auf die sinn-induktiven Text-Bild-Montagen!

Es mag Ideologen geben, die den antikolonialen Kampf arabischer Staaten mittels islamistischer Rhetorik zu legitimieren such(t)en – angefangen von Hassan al-Banna, dem Gründer der Muslimbruderschaft in Ägypten mit unzähligen Ablegern in der ganzen Welt – oder auf israelischer Seite den Rabbiner Itzhak Shapira, der eine fundamentalistische Präventiv-Doktrin propagiert, die es gebietet, auch palästinensische Babys zu töten, weil sie einmal zum Feind werden könnten; alles geeignet den Eindruck zu erwecken, es handele sich um einen jüdisch-muslimisch-ideologischen Kampf. Dabei stören christliche Palästinenser, Drusen & Co. natürlich, und so neigen nicht wenige dazu, diese unerwähnt zu lassen – ebenso wie die anti-zionistischen und ultraaorthodoxen Juden der Gruppe Neturei Karta – und zunehmend homogenisierend eine Frontstellung zwischen Muslimen und Juden zu phantasieren; ganz im Sinne einiger Ideologen, die jegliche Lösung verhindern wollen. Medien folgen oft diesem Framing, obwohl sie aufklären könnten.
Die Rolle der Medien – Propaganda machen immer nur die anderen…
Unserer idealtypischen Vierten Gewalt können wir nicht erst seit dem schrecklichen Anschlag vom 7. Oktober 2023 ein breites Medienversagen attestieren, wie dies u.a. Fabian Goldmann in einigen Untersuchungen nachweist. Das Medienversagen beginnt damit, dass es keine journalistische Haltung ist, in einer Auseinandersetzung eine Seite als glaubwürdiger einzustufen als die andere. In Gewaltkrisen gibt es per se keine glaubwürdigen Quellen. Es sollte – leider zu oft verletzt – immer das Zwei-Quellen-Prinzip gelten und bei solchen Auseinandersetzungen besonders kritisch geprüft werden, ob eine zweite Quelle, die aus einer Behauptung erst ein Fakt macht, auch wirklich unabhängig ist und nicht etwa eine Inszenierung darstellt. Die Propagandaforschung hat seit Arthur Ponsonby ausreichend belegt, dass alle Seiten versuchen die öffentliche Meinung zu beeinflussen, sich selbst zu idealisieren und den Gegner zu dämonisieren. So weit, so normal. Natürlich kommt es auf die Ausstattung dessen an, was Thomas Leif und Rudolf Speth die „Fünfte Gewalt“ nannten; d.h. auf die personellen und finanziellen Möglichkeiten, sich Lobbyarbeit und PR zu leisten. Je professioneller die PR, umso höher der mediale Niederschlag, was dem Journalismus insgesamt ein Armutszeugnis ausstellt (vgl. z.B. die Analyse des Quincy-Instituts zur PR-Macht des militärisch-industriellen Komplexes in US-amerikanischen Medien).
Aus PR-Sicht ist die klügste Strategie Media Relations zu betreiben, denn wenn eine Werbebotschaft wie ein Medienprodukt daherkommt, halten es viele für seriös, ja für „journalistisch geprüft“. Das, wofür Israel also kürzlich gescholten wurde, dass Unsummen in die Manipulation von KI und Social Media gesteckt sowie erpresserische Einflussnahme auf große Medien (und Politik) genommen werde, ist eigentlich überall gang und gäbe: the ubiquity of propaganda, Soft Power. Als Institute for the Study of War getarnte Think Tanks aus dem Hause Kagan und Nuland in den USA, die in Israel zum Beispiel Reut-Institute or Jerusalem Center for Security and Foreign Affairs oder auch Aish ha Torah heißen, entwickeln Analysen und Strategien zur Persuasionskommunikation: so hat letzteres den antimuslimischen Propaganda-Film „Obsession“ produziert, wobei das Reut-Institute ganz wesentlich Kampagnen erarbeitet hat, die diejenigen, die die Einhaltung des Völkerrechts auch von Israel einfordern, des Antisemitismus bezichtigen, mit dem klar formulierten Ziel, dass die israelische Regierung ihre Politik nicht verändern müsse.
Der einflussreichste Think Tank Deutschlands ist übrigens die Bertelsmann-Stiftung, deren Krankenhaus(privatisierungs)konzept, das sich „KrankenhausREFORM“ nennt, durch die Medien und Ministerien geistert. Die „Erfolge“ der Autolobby für fossile Technologie liefert ein weiteres Beispiel manipulierter Debatten mit gravierenden wirtschaftlichen Folgen. Die Einflussnahme von Akteuren der Fünften Gewalt auf die eher unbedarfte Vierte Gewalt kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Das Erkennen von PR-Strategien müsste die Journalismus-Ausbildung ergänzen – und es sind sehr viele Techniken strategischer Kommunikation, die sich seit der Hochzeit des PR-Genies Edward Bernays erheblich weiterentwickelt haben.
Die deutschen Medien werden sich – wie die deutsche Regierung – vor dem Internationalen Gerichtshof dafür verantworten müssen, die Menschheitsverbrechen in Gaza mit ermöglicht zu haben: die Regierung durch Waffenlieferungen und die Medien durch die Beruhigung der Massen durch auslassende Berichterstattung, durch die Übernahme von Regierungs-PR, sowie durch einen pauschalen Antisemitismus-Vorwurf. Dieser beschuldigt sowohl die Aktiven gegen den geplanten Genozid in Gaza als auch die Lebensgrundlagen und Kultur der Palästinenser selbst als inhärent „antisemitisch“ à la Reut-Institute.
Der Eindruck, der auf Social Media entstehen könnte, dass die Massen aufgepeitscht wären und sich in Hass ergingen, täuscht – denn das ist immer noch eine Minderheit. Die Mehrheit, wie gerade eine Studie der Universität Erlangen zeigt, wünscht sich eine andere Politik für Israel und Palästina. Viele Menschen haben sich inzwischen von den großen etablierten Medien abgewandt und suchen nach Alternativen – ähnlich wie 2014, als die Ukraine-Krise so massiv einseitig dargestellt wurde, dass sich auch ohne weitere Kenntnisse eine Skepsis einstellte.
Ein Medien-Divide wäre natürlich ein Risiko für eine demokratische Gesellschaft, weil sie einen Aushandlungsraum für Meinungsbildung und Entscheidungsfindung braucht und eine gemeinsame Sprache, um Sachverhalte zu klären. Zeit zu reden sehe ich als Antwort auf diesen Teil des Medienversagens, verloren gegangene Diskursräume zurückzuerobern und die notwendigen und auch schmerzhaften Diskussionen zu ermöglichen, die durch Diffamierung, Polarisierung und Veranstaltungsabsagen verhindert werden sollen. Ja, sollen. Denn das ist die Absicht der strategischen Kommunikatoren. Und unsere Medien müssen erkennen, dass sie als Vehikel auserkoren wurden und auf deren Tricks schon vielfach hereingefallen sind.
Mangelnde Kenntnisse des komplexen Völkerrechts bieten ein weiteres Einfallstor für strategische Kommunikation, welche die Ansprüche Unterdrückter gerne auf das humanitäre Völkerrecht reduziert und möglichst vom Selbstbestimmungsrecht der Völker oder dem Staatsvölkerrecht ablenkt. Suggestivfragen sollen dabei Plausibilität erzeugen: „Soll man die Palästinenser für ihren Terror belohnen?“ „Warum nicht?“, ließe sich aus historischer Perspektive erwidern, schließlich ist Israel auch durch Terror entstanden. Er trägt die heute vielfach ausgeblendeten Namen Lehi, Haganah und Irgun.
Von Antisemitismus kann keine Rede sein – soll es aber ausschließlich
Nun wundern Sie sich, dass bis hierher noch nicht viel über Antisemitismus – also Antijudaismus – geschrieben wurde? Tatsächlich bräuchte es das auch nicht. Denn die instrumentelle Aktualisierung der Angst vor Antisemitismus – die in Deutschland durchaus ihre Berechtigung hat – ist eben eine instrumentelle; besonders vorangetrieben vom bereits erwähnten Jerusalem Center for Security and Foreign Affairs, das eine vermeintliche Fachzeitschrift herausgibt, die Jewish Political Studies Review heißt und in der ein rechter Ideologe namens Nathan Sharansky eine manipulative 3D-Theorie entwickelte. Demnach gebe es einen 3D-Test, der „neuen (also antiisraelischen) Antisemitismus“ begründe in Form von „Dämonisierung, doppelten Standards und Delegitimierung“ Israels.
Zusammen mit der von Ulrich Sahm geleakten „Arbeitsdefinition Antisemitismus“, die schließlich in dem Bemühen der IHRA mündete, einen „israelbezogenen Antisemitismus“ auszumachen, lässt sich bei nüchterner Betrachtung genau das feststellen, was das Reut-Institute platt und klar formuliert hatte: Um das Ziel zu erreichen, dass die völkerrechtlichen Standards nicht von Israel eingefordert werden, muss jegliche Initiative – z.B. BDS – als antisemitisch DELEGITIMIERT werden (sic!). So entsteht ein Doppelstandard, der es Israel ermöglichen soll, weiter völkerrechtswidrig Land zu besetzen. Genau umgekehrt also als immer behauptet.
Dass dieses Konstrukt es aber erlauben würde, Menschheitsverbrechen wie in Gaza und in der Westbank sowie Völkerrechtsbrüche wie die der IDF im Libanon und in Syrien zu legitimieren und sogar explizite Genozidapologie salonfähig zu machen, das hätte selbst ich als kritische Diskursanalytikern in dem Ausmaß nicht für möglich gehalten – obwohl ich bereits zum Ende meiner Doktorarbeit über antimuslimischen Rassismus in den Medien vor über 20 Jahren vor dem Potential warnte, welches aus der Entmenschlichung einer Menschengruppe resultiert. Besonders der wissenschaftliche Vergleich zwischen dem antijüdischen Diskurs im 19. Jahrhundert und dem antimuslimischen, anti-arabischen und anti-palästinensischen Diskurs der 1980er Jahre bis heute steht für diese ungebrochene Möglichkeit, über Dehumanisierung Bereitschaft für die Akzeptanz von oder gar das Mitwirken an Mord und Totschlag zu erzeugen. Die Lehren aus der Geschichte wurden also noch nicht gezogen.
Die bei den Paneldiskussionen und in Artikeln geäußerten Ansichten entsprechen ausschließlich denen unserer Mitwirkenden und spiegeln nicht zwangsläufig die Ansichten von „Zeit zu reden“ wider.
